Annapurna-Circuit – Die Girlande der weißen Gipfel

Reisebericht von Wolfgang Gottschick

So schön kann der Abschied vom Marsyangdi-Tal sein: Die Eisriesen glänzen rundum in der Morgensonne, die Gebetsfahnen flattern vor den Chörten wie buntes Vogelgefieder. Erste Bartgeier (Gypaetus barbatus) lassen sich von der Thermik hochtreiben und mehrere Treckingkarawanen ziehen den steilen Pfad hoch.


Wolfgang Gottschick

Nepal - Annapurna-Circuit 

Annapurna-Circuit: von Besisahar bis Pokhara,

Trekkingstrecke 190 km, rund 10.000 Hm im März 2020

Annapurna, die Göttin der Ernte, zürnte uns. Schon in Jagat, wo unsere Trekking-Tour begann, hörte ich in der Nacht das dunkle Rauschen des Marsyangdi in der Schlucht neben unserer „Eco Lodge“. „Es gab Regen in den Bergen“, sagte ich unsicher am Frühstückstisch, „Ich habe in den Felsen das Flutwasser tosen gehört.“

„Alles gut. Krishna arpan, guten Appetit!“ sagte unser Guide. Aber auf dem Weg von Dharapani nach Chame begann es dann oben in Timang, wo wir unsere Nudelsuppe einnahmen, zu regnen. Es wurde kälter auf 2.750 m. Wir zogen eine zusätzliche Lage Kleidung an. Einige streiften schon die Regenhosen über. Und dann heute: Wir öffnen die Flügeltür unserer Lodge in Chame und blicken überrascht in den verschneiten Innenhof. Das gibt erst mal tolle Fotos aber der ca. 20 cm hohe Neuschnee verheißt nichts Gutes für unsere weitere Tour zum Torung La Pass auf 5.400 Höhenmeter.

Rhododendron
„Ich wollte schon immer den blühenden Rhododendron im Himalaya sehen!“

Das klingt schon wie eine Klage gerichtet an die unerbittliche Göttin der Berge, die sich in dicke Wolken gehüllt hat und keinen Pfifferling auf unsere Wünsche gibt. In den letzten Jahren war es immer wärmer geworden auf der Annapurna-Runde. Blühende Rhododendronwälder im März! „Nehmen Sie sich ein paar T-Shirts mit!“ kam die Empfehlung aus dem Reisebüro. Tatsächlich gab es aber im März 2020 einen Wintereinbruch wie schon seit zehn Jahren nicht mehr.

Wir sitzen in der „Tibetan Lodge“ in Chame. Der Wirt hat den Blechofen angeheizt und rundum haben sich mehrere Gruppen aus verschiedenen Ländern und Zungen versammelt. Wir haben alle die gleiche Frage: Wie geht es weiter? Der Zeiger der großen Wanduhr tickt unverdrossen drauf los und zeigt eine aus der Zeit gefallene Stunde an. Wir warten auf unseren Guide und hätten eigentlich längst schon auf dem Weg sein sollen.  Der tibetische Koch klärt uns auf:

„Wenn’s einmal schneit, geht’s noch. Der Schnee auf dem Pass wird schon festgetreten, auch wenn er einen Meter hoch liegt. Wenn’s aber weiter schneit, kann man nicht mehr hinüber.“ Sein knackendes Englisch wird von allen gut verstanden. Schließlich: Mit Verspätung erscheint unser Guide. Er hat puffige, gelbe Gamaschen an und ist in einen metallgrauen Regenponcho gehüllt: „Auf geht’s!“ und wir folgen seiner Entscheidung, ohne zusätzliche Fragen zu stellen. Die Zeit kehrt in die Uhren zurück, wir gewinnen wieder Vertrauen und machen uns auf den Weg.

Annapurna I und II

Wir hatten schon einige Tage in Nepal hinter uns, eine kleine Gruppe von zwei Trekkerinnen und drei Trekkern. Es war die erste Annapurna Tour im Jahr und wir ahnten noch nichts vom Corona Lockdown und was sonst noch kommen würde. Unser Guide sprach fließend Deutsch und war bemüht, uns alles genau zu erklären: Die Berge, das Land, die Menschen, ihre Gebräuche und ihre Sprache. Er erzählte uns gerne übers honey hunting im Himalaya. Er zeigte uns auf seinem Smartphone Bilder von den waghalsigen Honig-Jägern, die auf schwankenden Strickleitern in den Felswänden über dem Abgrund zu den Nestern vordringen, immer in Rauchschwaden des Reisigfeuers gehüllt, um sich so vor den Stichen der aggressiven Kliffhonigbienen (Apis laboriosa) zu schützen. Leider erfahre ich später, dass diese Spezies stark gefährdet und vom Aussterben bedroht ist, weil die honey hunter gleich die ganzen Bienennester abräumen.

Unser Guide hatte uns in Kathmandu abgeholt.

„Binaya. Das ist so ähnlich wie Bieneberg“, stellte er sich vor. Und als wir mit dem Jeep auf dem Weg von Besi Sahar nach Jagat fuhren, zeigte er in die Felswände: „Schaut mal hin, da sind sie!“

Den Weg von Jagat bis Dharapani war ich vor drei Jahren auf der Manaslu-Runde in umgekehrter Richtung schon mal gelaufen. Jetzt ging es aber bergauf und ich war überrascht von der neuen, überwältigenden Perspektive auf die Marsyangdi Klamm. In Dharapani gibt es zwischenzeitlich schöne, neu errichtete Lodges mit Warmwasser. Ein Luxus in dieser Gegend. Weiter ging es auf dem Weg nach Chame über lange und steile Treppenwege durch einen von Affen besiedelten Papyruswald. Wir tragen unseren leichten Tagesrucksack, derweil die hochsteigenden Gurung Frauen ihre Reissäcke am Stirnband befestigt haben.

„Namasté, Didi!“

„Namasté, Dhaai!“

Schnippisch hatte eine jüngere Gurung Frau den Gruß erwidert, denn „Didi“ heißt älter Schwester und „Dhaai“ älterer Bruder. Wir lachen herzhaft.

Aber, die Göttin der Ernte, die Annapurna, hatte sich gegen uns entschieden.

Wir müssen im Schnee nach Pisang (3300 m) hochsteigen, zuerst auf der verschneiten Straße bis Thaleku, wo wir zum Aufwärmen im leeren Saal eines Restaurants einen heißen Milchtee schlürfen. Wer Gamaschen mit hat, ist im Vorteil und eine Schneejacke ist jetzt unabdingbar. Es gibt noch Spaß beim Überqueren einer verschneiten Hängebrücke. Dann geht es steil hoch durch den verschneiten Wald. Kein Weg ist erkennbar, aber Lokbahadur unser Bergführer, den wir einfach Lokeh nannten, findet zielsicher den Weg. Oben auf der Hochebene von Dhukur Phokari kehren wir im „Buddha Restaurant“ ein und freuen uns auf das warme Mittagessen mit kaló chiá (Schwarztee). Der Eisenofen in der Mitte des Raumes ist schnell von uns umstellt und wir wärmen uns auf, bald den Rücken, bald die Hände.

Bis Pisang und Upper Pisang, wo wir unsere nächste Unterkunft in der „Hill Top Lodge“ haben, sind es noch zwei Stunden. Wir schreiten durch den spitzigen Einlass des weißen Tors mit blauem Blechdach. Vor uns steht ein Gebäude mit balkonartigem Wandelgang. Wir haben eine Höhe erreicht, wo die Sonne über den Wolken steht. Von der Terrasse unserer Lodge kann man im glänzenden Licht die Eisgipfel der Annapurna II (7.937) und Annapurna IV (7.525 m) sehen. Allein diese Aussicht hat den heutigen Aufstieg entlohnt.

Am Spätnachmittag steigen wir zur Gompa über Pisang hoch. Es geht durch sehr schmale Gassen, zwischen eng aneinander liegenden Steinhäusern durch den Schnee. Trotzdem hatten unsere drei Porters ihre Schuhe abgelegt und liefen nun in Badeschlappen. Oben auf der Terrasse der Gompa weht ein kalter Wind. Die Gebetsfahnen knattern und zerren heftig an den Stangen. In der Gompa ist es still. Die Decke bildet ein einziges großes Mandala, eingerahmt vom Rad der Lehre, erhellt vom einfallenden Tageslicht.

Um sechs Uhr morgens stand ich auf der Terrasse.

Im Zimmer waren es Null Grad und draußen zeigte mein Thermometer minus fünf Grad an. Es lag Frost auf den Holzbohlen. Rutschgefahr. Annapurna II und IV begannen im Morgenlicht aufzutauchen erst rötlich, dann bläulich glitzernd im Eis. Der ideale Fototermin.

Heute stiegen wir zuerst hinab zum Marsyangdi Nadi, mit herrlicher Sicht auf die Silhouette von Pisang am Berghang unter dem Pisang Peak (6.091 m). An einer langen Mani-Mauer machten wir Halt. Der Blick richtet sich genau zur Nordflanke der Annapurna II und ich traute meinen Augen nicht, oben in der Eiswand ein Gesicht zu erkennen, riesig, mit finsterem Blick zu uns herüberschauend. Ich glaube, die Psychologen bezeichnen solch eine Wahrnehmung Pareidolie.

„Jam! Jam!“ – „Auf! Auf!“ Vor uns liegt der steile Aufstieg nach Ghyaru (3.670 m). Für die 500 Höhenmeter benötigten wir fast zwei Stunden. Der Weg ist steil. Wir stapften im Schnee und je höher wir den Sonnenhang hochsteigen, umso matschiger und schwerer wird der Untergrund. Oben - welch Ausblick!  Zwar hält sich der Hauptgipfel, die Göttin Annapurna weiterhin wolkenbedeckt im Hintergrund aber ihre drei Töchter sind uns gnädig und zeigen sich in glitzernder Pracht: Annapurna II und IV und weiter westlich Annapurna III (7.555 m). Wir stehen auf der Plattform vor der Gompa von Ghyaru. Die Gebetsfahnen flattern im eisigen Wind und wir lassen unsere geblendeten Blicke über die Gipfel gleiten und verstummen vor Ehrfurcht. Ein gewaltiger Gebirgsstock ragt hier in den Himmel.

In Ngawal (3.660 m) steht uns das „Mountain Home“ zur Verfügung. Es ist eine schöne Anlage mit weitem Hof, Tischen und Bänken. Wir trinken Tee, viel Tee. Mal Minze Tee, dann grünen oder schwarzen Tee, Zitronentee. Egal, wir müssen viel Flüssigkeit aufnehmen, das ist das beste Mittel gegen die Höhenkrankheit. Oberhalb von Ngawal gibt es einen Chörten, zu dem ein sehr steiler Treppenweg führt. Wir steigen hoch. Wie auf einer Wolke schwebend öffnet sich der Blick aufs Marsyangdi-Tal. Dort liegt der Flughafen von Humde (3.280 m). Und dann bekommen wir noch einen Bharal zu Gesicht. Die Porters nennen diese Tierart Blue Sheep, aber es ist weder Schaf noch Steinbock und ähnelt eher einem zottigen Lama mit bräunlichem Fell.

Morgens. Bevor wir losegehen werfe ich noch schnell einen Blick aufs Regal im Gastraum. Was den Trekkern in der Höhe zu schwer ist, haben sie hier abgestellt: Bücher. Und die sprechen Bände. Da steht „Les Souffrances du jeune Werther“. Wie seltsam, das Buch eines berühmten deutschen Dichters hier auf Französisch zu finden. Dann Puschkin und „Hobeллы“, überhaupt viel auf Russisch, etwas Spanisch und, wie zu erwarten war mehrere englische Bücher. Schließlich auch ein rumänisches Buch. Jeder mag seine Schlüsse daraus ziehen.

Heute geht es nach Manang, der Bezirkshauptstadt, immer am Marsyangdi Fluß entlang mit Blick auf Annapurna IV bis plötzlich die Eisspitze der Ganggapurna (7.454 m) dahinter auftaucht. Damit hatten wir die gewaltige Kette der vier 7.000er auf der Nordseite des Annapurna-Massivs sehen können und wir waren froh, denn: „Das Wetter droht umzuschlagen. Wir müssen mit erneutem Schneefall rechnen“ geht die Runde. Zwei Tage vor der Passüberschreitung bot sich uns in Manang die Möglichkeit, Winterausrüstung zu besorgen. In den kleinen Läden gibt es so ziemlich alles zu kaufen. Wir suchten nach Steigeisen oder Grödeln. Aber hier sind Schneeketten mit Spikes, die man per Gummiring über die Wandeschuhe zieht, gebräuchlich. Der Verkäufer: „Good stuff, good stuff, Sir. You will cross the Pass flying.“ Wenn das nicht überzeugt!

Gangapurna

Am Nachmittag gibt es noch eine Akklimatisierungsrunde zum vereisten Ganggapurna See am gleichnamigen Gletscher. Von hier führt ein Weg zum höchsten und größten Gebirgssee, dem Tillicho Tal auf 4.920 m. Gerne wären wir dorthin hochgestiegen, aber leider stand er nicht auf unserem Programm. Dafür konnten wir über dem gegenüberliegenden Ufer des Marsyangdi die Silhouette von Manang betrachten. Ein tibetisch geprägtes Dorf mit den typischen Häusern aus bräunlichen Steinquadern wie Vogelnester hingesetzt auf einem langgezogenen Felsenabsatz am Südhang des Gungang Himal. Unten am Fluss schwebt die große Hängebrücke über den Marsyangdi. In der Ferne schließlich weiden Pferde auf Hochgebirgswiesen.  Zurück zu unserer Lodge kommen wir an einer tibetischen Gompa vorbei mit einer vielleicht zwei Meter hohen Gebetstrommel. „Om mani pedme hun!“ Das Murmeln des Mantras und das Drehen der schweren Trommel im Kreisgang stimmt uns auf die kommenden Tage ein. Und bei den letzten Strahlen der Höhensonne bestellen wir noch eine große Kanne mit Masala-Tee, bevor wir uns vor der Kälte in unsere Schlafsäcke verkriechen.

So schön kann der Abschied vom Marsyangdi-Tal sein:

Die Eisriesen glänzen rundum in der Morgensonne, die Gebetsfahnen flattern vor den Chörten wie buntes Vogelgefieder. Erste Bartgeier (Gypaetus barbatus) lassen sich von der Thermik hochtreiben und mehrere Treckingkarawanen ziehen den steilen Pfad hoch. Nicht zu vergessen eine Mountainbikerin und ein Mountainbiker, die sich auf dem schneefreien Steig hochkämpfen.

„Ich bin das erste Mal im Himalaya…“, sagt ein junger Franzose mit Cowboyhut, als wir uns bei einem Teeausschank an einen Tisch setzen. „Ich habe die richtige Wahl getroffen!“ Dem würden wohl viele beipflichten. Aber dann zieht sich der Himmel zu. Wolken umhüllen die Gipfel und als wir Yak Kharka auf 4.050 m erreicht haben, wird es richtig kalt. Vor der Lodge pfeift der Wind so heftig durch die Vertäuungsbohrungen der Fahnenstangen, dass diese wie Windorgeln zu tönen beginnen.  

Wir wollen noch eine Akklimatisierungsrunde bis auf 4.300 m laufen. Unwegsames Gelände erwartet uns. Es geht durch Wacholdersträucher, über Schneefelder und Gestein. Ein Bharal kreuzt unseren Weg, aber eigentlich haben wir ihn aufgescheucht. Von hier oben hätten wir eine grandiose Sicht auf die nördliche Annapurna-Kette mit Gangapurna, Annapurna II, III, IV gehabt, aber die Wolken verderben uns die Freude. Die Berge zeigen sich von ihrer rauen Seite und wir sind froh, wieder in die Lodge einzukehren.

Zwei Nepalis wollen das Feuer im Eisenofen entfachen. Die Wacholderzweige sind zu lang und ragen durch den Ofen Ringe heraus. Die Jungs geben Yakdung hinzu und gießen Kerosin darüber. Immer wenn die Porters das Feuer anzünden, befürchte ich, dass im nächsten Augenblick die ganze Hütte in Flammen steht. Qualm erfüllt den Raum, Flammen schießen hoch, aber die jungen Nepalis finden immer einen Weg, mit bloßen Händen das Feuer zu bändigen und wir können unsere starren Glieder aufwärmen.

Zu Abendessen gibt es Dhal Bhat, Chapati und viel Tee. Dann machen Himalaya Stories die Runde, zu der jeder gerne etwas beiträgt. Da ist eine junge Finnin, die mit dem Mountainbike die Runde bewältigen will. Wir staunen nicht schlecht. Es ist nicht nur die Höhe, sondern auch das winterliche Wetter, die überwunden werden müssen. „Über die Schneeflächen tragen die Porters unsere Räder“, gesteht sie. Wir haben Respekt vor so viel Mut.

Thorung Phedi.

Wir schreiten durch ein Holzportal auf 4.540 m. Letzte Station vor der Passüberquerung. Im Innenhof der Lodge gammeln rote Gasflaschen herum. Ein Blick in die Höhe eröffnet die Sicht auf riesige Felsformationen, die mich an die Dolomiten erinnern. Weiter geht der Blick nicht. Der Himmel ist rundum mit Wolken verhangen. Jeder bereitet sich auf seine Weise für die Passüberschreitung vor. Bei Einbruch der Dunkelheit wird es stürmisch. Es schneit. Ich gönne mir noch eine Mohnschnecke am Ausschank und dann versuche ich, angekleidet in dem sehr engen Zimmer etwas, zu schlafen.

„Wake up! Wake up!“ Es ist 3:00 Uhr und die Porters klopfen an die Tür. Jetzt muss alles schnell gehen. Die Trekkingtasche hinausstellen, Mütze und Daunenjacke überziehen, dicke Handschuhe mitnehmen und, ach ja, die Stirnlampe nicht vergessen. Es gibt noch etwas heißen Tee aus der Thermoskanne und etwas Tsampa aus dem Blechnapf.

Im Lichtkegel unserer Lampen stapfen wir den verschneiten Hang in nördlicher Richtung hoch. Die Träger sind voraus gegangen und wir hören sie kurz darauf in den Felsen, wo sie mit ihren Pickeln Stufen ins Eis schlagen. Sie reichen uns die Hand, um eine schwierige Stelle zu überqueren.

Nach einer Stunde erreichen wir das High Camp auf 4.925 m. Wir ziehen die Steighilfen über unsere Bergstiefel. Die Tritte werden rutschsicher im fast kniehohen Schnee. Tief am Himmel ein fahler Mond, nicht größer als ein Blechteller.

Dann kommt Sturm auf. Heftig zerrt er an unseren Jacken. Die Eiskristalle beißen sich in unsere Gesichter, die Wangen schmerzen bei jeder Böe. Wir laufen in mehreren Schleifen an steilen Schneehängen hoch, immer höher, mit kleinen Verschnaufpausen. Der Schnee ist von einigen Vorgängern teilweise niedergestampft worden. Das spart viel Mühe. Nach weiteren drei Stunden stehen wir um 8:00 Uhr oben im Sattel und haben rund 1.000 Höhenmeter bewältigt. Es ist klirrend kalt, aber der Sturm beginnt sich zu legen und bei hellem Sonnenschein können wir unser Erinnerungsfoto am Haufen wirr durcheinandergewirbelter Gebetsfahnen schießen. Es war die mühsamste 5.000er Ersteigung, die ich je erlebt habe. „Thorung La 5.416 m. Congratulation for the success! See you again!“ steht auf der im Schnee versunkenen Tafel.

Muktinath.

Der Abstieg vom Thorung La bis zu diesem heiligen Pilgerort auf 3.760 m war eine einzige Rutschpartie, für die wir rund fünf Stunden benötigten. Wir hatten Glück mit Speik an den Schuhen. Aber was sich uns in Muktinath bot, überstieg dann alle Erwartungen. Blendender Sonnenschein oben auf der Terrasse des Pilgerorts mit den drei weißen Chörten. Welch wunderbarer Ausblick auf die Nilgiri Gruppe und im Westen der majestätische Dhaulaghiri (8.171 m). Allerdings, Annapurna, die Göttin, blieb weiterhin bedeckt von Wolkenschleiern.

Die Tempel von Muktinath werden von Buddhisten und Hindus gleichermaßen besucht. Die goldenen Dächer glänzen vor den Eisriesen rundum. Eine kleine bläuliche Erdgasflamme leuchtet hier in einer Felsnische über einer Wasserquelle. Leider konnten wir dies „Wunder“ nicht sehen, da der Tempel geschlossen war. Dafür aber die 108 bronzenen kuhköpfigen Wasserspeier, die im Halbrund einen Wasservorhang bilden.

„Ihr könnt da durchlaufen, wenn ihr vorher die Kleider abgelegt habt“, scherzte unser Guide. „Die Pilger kommen an Janaipurnima hierher, um sich zu reinigen und die aus drei Baumwollfäden gedrehte Brahmanenschnur (Jaina) zu wechseln.“

Unten im Ort sahen wir die Pilger hochziehen, einige auf Pferden reitend, andere zu Fuß in Decken gehüllt und mit Schlappen an den Füßen. Sadhus stiegen hoch mit Messinggerät in der Hand, die Shivaiten mit Schlangenstock, Dreizack und einem dicken Haarknopf auf dem Haupt. Ein buntes Treiben, das frühmorgens begann und bis spät abends anhielt. Wir waren im „Eureka“ Hotel untergekommen und konnten von der Etage aus das Geschehen verfolgen.

Ein Kukur hatte sich unserer Gruppe angeschlossen. Kukur ist die nepalesische Bezeichnung für Hund. Sie streunen überall in den Dörfern herum und wenn sie von Muktinath nach Kagbeni reisen wollen, laufen sie mit den Fremden mit. Unser Kukur wollte sich dienlich zeigen, lief gern voraus, erkundigte den Weg und kam wieder zur Gruppe zurück.

Es hatte zu schneien begonnen und bald war kein Weg mehr zu erkennen. Große Schneeflocken kamen herunter und am nahen Berghang zog eine Ziegenherde dahin, so dass sie aus einiger Ferne einem tibetischen Teppichmuster aus schwarzen Ziegen und weißen Schneeflocken ähnelte.

Nepal-Gruppe-am-Tschörten
Reisegruppe am Tschörten
Wir waren im unteren Mustang angekommen.

Verwitterte Felsformationen, hier und dort. Höhlen in den Bergwänden, wo vor langer Zeit Menschen gewohnt haben, heute aber nur noch Fledermäuse hausen. Stachlige Kissensträucher und nicht weit von hier soll es Blauschafe und Schneeleoparden geben.

Nachdem wir Purang hinter uns gelassen haben, steigen wir etwas hinab zum Dorf Jhong. Die Häuser sind niedrig braun-weiß bemalt. Am Weg stehen mehrere Mani-Mauern. In Nischen sieht man unregelmäßig übereinander gelegte Aschekegel: die Bestattungsstätte Verstorbener. Die Mehrzahl der Kegel ist grau, einige sind weiß bemalt, wenige rotbraun und alle haben ein Muster aufgeprägt. „Das sind Lotusblüten oder Stufen auf dem buddhistischen Weg der Befreiung“, wie unser Guide erklärt. Das Schneetreiben nimmt zu, die Gegend wird einsamer und bis Kagbeni treffen wir auf keinen Menschen mehr.

Das „Red House“ in Kagbeni ist ein altes, verwinkeltes Gebäude mit einem Etagenaufbau, vollständig aus Holz errichtet und für den Tourismus renoviert. Es beherbergt eine Thangka-Sammlung (tibetische Rollbilder) und ist mit Holzschnitzwerk und alten Wandmalereien ausgeschmückt. Unser Kukur, der Hund, hat sich einen trocknen Platz am Eingang gefunde. Wir steigen zum Dach hoch, das schlicht mit einer Lehmschicht bedeckt ist. Mustang ist eine trockene Gegend. Aber diesmal kommt reichlich Regen herunter und weicht die Lehmdecke auf. Zwei Schritte und wir versinken im Matsch auf dem Dach. Es lohnt ein Rundumblick. Das geschwungene, goldene Dach der Gompa fällt auf. Es hebt sich ab gegen die schwarzen Felsen im Hintergrund. Auf den Dächern der niedrigen Häuser ist Brennholz aufgeschichtet. Am Rand des Dorfes fließt der Kali Gandaki, der uns die nächsten Tage begleiten wird. Sein breites Flussbett führt nur wenig Wasser. Unten, in der Gaststube, wurden derweil Eimer aufgestellt, um das durchsickernde Regenwasser aufzufangen. Abends besuchen wir eine Puja (Zeremonie) im Tempel. Die Mönche rezitieren im Brustton die Mantren, die Zimbeln klingen hell, während die langen, brummelnden Trompeten den Grundton der Unendlichkeit setzen, das ewige, heilige Om.

„Das ist die Wüste!“

Wir erleben Mustang. Wir wandern im staubigen Flussbett des Kali Gandaki. Heftige Windböen treiben den Sand durch die Luft, ins Gesicht, in die Augen. Über die spärlichen Rinnsale treiben Windhosen, spiralförmige Staubwolken tanzen wie Windteufel über Schotter und Sand. Wir mussten eine Stelle finden, um den Kali Gandaki überqueren zu könnten, denn hier ist er mehrere hundert Meter breit und es gibt keine Brücke. Von Kagbeni bis zu den Apfelbaumplantagen in Marpha waren wir mit dem Jeep gefahren, auf schlechtem Fahrweg an Jomsom und dem Flughafen vorbei. Dann ging es im flotten Trekkingschritt durch Tukuche, Kobang, Larung. Auf der linken Flußseite die Kulisse des Nilgiri, auf der rechten Tukche Peak (6.920) und vor uns der imposante Daulaghiri, eine mächtige Eiswand bis auf 8.167 m. Zartes Laubgrün einiger Bäume am Kali Gandaki und wir, mitten im Staubsturm, das ist schon surreal.  

Keine guten Nachrichten warteten auf uns in der „See You Lodge“ in Kalopani. Wir sollten von hier mit einem Bus abgeholt werden, um nach Tatopani gefahren zu werden. In der Nacht gab es wieder Schnee, so hoch, dass kein Auto herfahren konnte. Also mussten wir zu Fuß aufbrechen durch den hohen Schnee. Die Zweige der Bäume hingen tief belastet vom Schnee. Ein LKW war auf der Strecke steckengeblieben. Auch einsame Schneewanderungen haben ihren Reiz. An einem Hangabsturz waren die Bagger schon im Einsatz, um den Weg freizumachen. Allerdings mussten wir noch ein Stück bis Ghasa laufen, wo wir von einem Bus abgeholt wurden. Und in Tatopani auf 1.200 Höhenmeter gab es dann eine ganz andere Welt! Wir waren auf der westlichen Seite des Annapurna-Massivs angelangt. Frühlingshafte Temperaturen! Heller Sonnenschein. Wir aßen unsere Momos mit Chilisoße auf der Terrasse unter safrangelben Trompetenwinden. Werde ich doch noch den blühenden Rhododendron sehen? Wird sich Annapurna gnädig zeigen?

„Das ist unser letzter Aufstieg bis Ghorepani!“ meldete unser Guide. Lokeh, der Bergführer, verteilt Orangen. Dann geht es hoch über steile Felstreppen. Herrlicher Blick auf Tukuche Peak (6.920 m) im Westen und nun auch Annapurna Süd (7.219 m) im Osten. Dazwischen das Kali-Gandaki-Tal mit grünen, hoch geschwungenen Bergrücken bis an die Schneegrenze. Terrassenfelder mit Gerste oder Kartoffeln ziehen sich über die wuchtigen Hänge hin. Wir wandern durchs Bergdorf Chara mit einem kleinen, zwischen die Bäume geduckten Tempel. Schulkinder kommen uns entgegen, ernster, wie sonst Kinder zu sein pflegen. Wir beziehen unser Lodge in Shikha (1.935 m). Und wie das im Himalaya nicht anders sein kann, gab es am Abend ein Erdbeben der geschätzten Richter-Magnitude 4. Erschütterungsgeräusche waren zu hören in der Lodge und ein dumpfes Rauschen zog von den Gebirgshängen herüber. Die Berge zeigten, wer hier das Sagen hat.

Heut ist der Tag der Enthüllungen! Es geht hoch nach Ghorepani (2.860 m), immer noch über Steinwege bei herrlichem Sonnenschein und in Chitre gibt es die ersten Rhododendronblüten. Endlich! Daulaghiri und Annapurna Süd markieren den Horizont. Den einstündigen Treppenweg zum Poon Hill (3.193 m) schließen wir gleich an. Wir wollen nichts verpassen, solang die Sicht so klar ist. Es geht hoch durch leuchtendrote Rhododendronwälder. Schnee, wie weiße Kissen, liegt rundum. Oben auf dem Poon Hill steige ich auf den Aussichtturm und es verschlägt mir buchstäblich den Atem, ob des schnellen Aufstiegs oder der überwältigenden Aussicht. Ich weiß es nicht.

„What a splendor!“, ruft der Australier neben mir.

Wie die Erscheinung einer Heiligen steht sie da in voller Schönheit, die Göttin Annapurna I (8.091 m). Sie hat ihre Schleier fallen lassen und zeigt sich mitten unter ihresgleichen: Gurja Peak, Daulaghiri, Tukuche Peak, Nilgiri, Annapurna Süd, Machapuchre. Wie eine Girlande weißer Blüten umkränzten die Eisgipfel den Horizont im großen Bogen und ich stand hier oben auf dem Poon Hill, umschlossen von solcher Pracht.


zur Reise: Annapurna-Circuit Lodge-Trek